Gute Reise, liebes Pferd!
Viele Jahre lang hatte ich schöne Begegnungen mit einem Pferd, welches in meiner Nähe lebte. Aufgrund seines Todes möchte ich an dieser Stelle Erinnerungen teilen, ein Bild von seinem Stall zeigen und mit diesem Beitrag Abschied nehmen.

Mein Kontakt beschränkte sich auf kindliches Ponyreiten
Bevor ich von meinem tierischen Freund berichte, möchte ich erzählen, wann ich zum ersten Mal in Kontakt mit Pferden gekommen war. Als Kind hatte ich regelmäßig am Ponyreiten auf der örtlichen Dorfkirmes teilgenommen, welches nicht nur ethisch fragwürdig, sondern auch Tierquälerei ist. In einem blauroten, runden Zelt mit geschätzten zehn Metern Durchmesser, welches vor einer Kneipe neben dem Rathaus seinen Stammplatz gefunden hatte, waren acht bis zehn Ponys im Kreis gelaufen. Für wenige D - Mark (ab dem Jahr 2002 Euro) hatten die Pferde alle paar Minuten Kinder auf ihrem Rücken (er)tragen müssen.
Im Alter von sechs oder sieben Jahren hatte ich mir noch keine großen Gedanken darüber gemacht und mich gefreut, mal "reiten" zu können. Aus den am Dach befestigten Lautsprechern war laute Westernmusik gedrungen, die Hufe der Ponys hatten Sägemehl über das Kopfsteinpflaster geschleudert. In der Mitte hatte ein Mann mit optischer Ähnlichkeit zu Thomas Brezina gestanden und eine Peitsche in den Händen gehalten. Diese hatte er meiner Erinnerung nach meist auf den Boden geschlagen, damit die Tiere liefen. Ob er auch sie damit geschlagen hatte, kann ich heute nicht mehr sagen. Ein paar Jahre später sollte ich noch ein - oder zweimal auf einem Reithof vorbeischauen, vor den dort lebenden ausgewachsenen Pferden hatte ich als Kind aber Angst.
Die ersten Begegnungen
Es müsste ungefähr 2012 gewesen sein, als ich dem mittelbraunen Wallach, einem Westfalen, bei einem Spaziergang in meinem neuen Wohnort zum ersten Mal begegnet war. Zu dieser Zeit hatte er noch mit seinem schwarzweiß gepunkteten Partner, wahrscheinlich einem Knabstrupper, zusammengelebt. Beide hatten vor ihrem Stall gestanden. Zwischen dem hölzernen Bauwerk und einer großen Wiese befand sich ein weißlackierter Metallzaun, der geöffnet wurde, wenn beide herausdurften, um Auslauf zu bekommen und zu grasen. Das gesamte Grundstück war von einem grünen Zaun umgeben. Auch wenn ich die beiden Pferde damals nur aus entsprechender Ferne hatte sehen können, freute ich mich dennoch darüber, dass sich welche in meiner Nähe befanden. Ich fand diese Tiere schon immer anmutig, war zu solchen ausgewachsenen aber vorher nie in näheren Kontakt gekommen. Ab meinem neunzehnten Lebensjahr hatte ich häufiger Spaziergänge in das kleine Waldstück unternommen.
Kleine Fun Facts am Rande: Neben dem Stall befindet sich nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt jener Ort, an dem ich 2014 die Außenaufnahmen für mein privates Höllenhund - Projekt drehte, welches als Vorlage für meine 2016 erstmals erschienene Kurzgeschichte Helldog diente. Dort ging ich auch mit meinem Hund, der in die Titelrolle geschlüpft und von Anfang an in unterschiedlichen Bildern auf meinem Cover zu sehen war und noch immer darauf zu sehen ist, größere Gassirunden. Zudem fertigte ich 2015 auf nahegelegenen Gleisen erste Motive für das Cover von Depressiva an. Im selben Jahr entstand in dem kleinen Waldstück darüber hinaus eine Szene für meine private Doku über die unterschiedlichsten Ängste, aus der ich später meine 2021 erschienene Kurzgeschichtensammlung Angst: Wer hat Angst - vor der Angst? entwickeln sollte. Ich verbinde also besondere Erinnerungen mit diesem Ort.
Im April 2014 fand dort ein Osterfeuer auf einem mit einem weiteren Zaun abgetrennten Teil des Grundstücks statt. Hier sollte ich die beiden Pferde nie sehen, denn dieser mit etwas Kies und einer separaten Wiese angelegte Platz blieb für Fahrzeuge der Besitzenden und Spielzeug für deren Kinder (u.a. ein Sandkasten, eine Rutsche) reserviert. Hinter dem Feuer war ein weißer Pavillon für eine kleine Feier aufgebaut worden. Da ich eine Kamera dabeihatte, fertigte ich ein paar Bilder an. Die Stelle lag etwa hundert Meter vom Stall entfernt, wo sich die Pferde währenddessen befanden und ruhig verhielten. Es sollte das einzige Mal bleiben, dass ich an diesem Platz ein Osterfeuer gesehen hatte.

Alleine im Stall, unzählige Begegnungen und ein Ausrutscher
Es
müsste im selben Jahr gewesen sein, als ich bei einem weiteren
Spaziergang entdeckte, dass der Knabstrupper plötzlich nicht mehr in seinem
Stall stand. Entweder war er verkauft worden oder gestorben. Ich hielt letzteres für wahrscheinlich. Von nun an sollte sein Partner, der
mittelbraune Westfale, alleine im Stall oder auf der Wiese stehen. In der
ersten Zeit und auch später noch gelegentlich brach mir seine alleinige
Haltung das Herz. Während ich im Sommer zu einem nahegelegenen See ging
- ein weiterer Fun Fact: hier sollte mir wenige Jahre später die Idee zur Kurzgeschichte Saint Virgin Lake aus den Maniac Stories - Band 1 in den Sinn kommen - graste das Pferd, welches mit einem Netz auf dem Kopf vor den Fliegen
geschützt wurde. Ich sah es jeweils auf meinen Hin - und Rückwegen,
weil ich immer daran vorbeimusste und nur selten einen Umweg nahm. Im
Winter stand es mit einem grauen Mantel vor dem Platz, womit es etwas
vor der Kälte geschützt war. Einen neuen Partner sollte der Wallach
leider nie wieder bekommen - wenigstens jedoch nicht (mehr) geritten werden.
Meine Wege führten mich privat unzählige Male an dem Stall und dessen Bewohner vorbei. Nicht nur, um Spaziergänge zu unternehmen oder im Sommer an den See zu gehen, sondern ab 2018 auch, als der unweit danebengelegene Friedhof unerwarteterweise erst ein Familienmitglied und 2019 dann ein zweites beherbergte. Von nun an wurde der ruhige Ort nicht mehr nur zum Krafttanken, sondern ebenfalls zum Besuchen der Grabstätte aufgesucht. Und jedes Mal führte mich mein Weg dabei am Pferd vorbei. Stets hielt ich Ausschau danach, winkte ihm vom Zaun aus zu, blieb ein paar Minuten stehen und leistete ihm beim Grasen oder beim Stehen im Holzbau Gesellschaft. Etwa zu dieser Zeit wurde es etwas zutraulicher und kam - wenn der weiße Zwischenzaun geöffnet war - auf die Wiese zu mir, wo ich behutsam über dessen Nase strich. Zwischendurch war es richtig verspielt und galoppierte dann über das Grundstück, was mich erfreute und zum Lachen brachte. Offenbar hatte es trotz seiner Einsamkeit hin und wieder noch positive Momente.
Einmal war der Boden jedoch vom Regen etwas aufgeweicht und als ich es aus Unkenntnis rief, kam es so schnell angerannt, dass es etwas auf dem Matsch ausrutschte und erschrocken zurücklief. Das hatte ich natürlich nicht beabsichtigt und tat mir leid. Es sollte einige Zeit dauern, bis es danach wieder zu mir kam. Wenn es nicht auf der Wiese unter einem Baum stand, wo es sich an dessen Rinde kratzte, hielt es sich meist nur im Stall auf, weil der Zwischenzaun immer öfter geschlossen war. War es früher noch im Frühling und Herbst auf der Pferdeweide, wurde es jetzt nur noch selten herausgelassen. Bis zum Sommer wurde das Gras hier und auf der Wiese nebenan, wo das Osterfeuer stattgefunden hatte, hochwachsen gelassen, getrocknet und danach dem Wallach zur Verfügung gestellt. Im Oktober 2022 entdeckte meine Familie überrascht, dass ein wenige hundert Meter entferntes und zum gleichen Grundstück gehörendes Gehege zwei Ziegenböcke beherbergte - das soll aber eine andere Geschichte sein.
Ein Halt in schwierigen Lebenszeiten und tierische Altersanzeichen
Im Frühjahr 2024 hatte ich immer mehr Mitleid mit dem Westfalen, da er nun noch seltener auf die Wiese durfte und meist nur in oder vor seinem Unterschlupf stand. Also besuchte ich ihn bewusst, nahm dafür zwei Möhren mit und reichte sie ihm über den Zaun, wenn er hinausdurfte. Ich legte das Gemüse in die flache Hand und hielt es ihm trotz meiner geringen Erfahrung nahezu angstfrei hin, schließlich waren wir in über einem Jahrzehnt zu guten Bekannten geworden. Dadurch, dass er die Möhren annahm, ich seinen dankbaren Blick erkennen und ihn danach streicheln konnte, waren wir zu Freunden geworden. Zu Freunden, die sich stillschweigend Halt in schwierigen Lebenszeiten gaben. Zu dieser Zeit war ich bereits gesundheitlich angeschlagen und hatte meinen 2021 eingetretenen privaten Schicksalsschlag noch immer nicht überwunden. Aber die Besuche bei dem Pferd halfen mir und so dachte ich auch dazwischen daran.
Beim Füttern des Wallachs fielen mir zugleich die vielen Falten an dessen Nase und den Lippen auf; er war sichtlich älter geworden und hatte an seinem dunklen Kopf auch einige graue Haare bekommen. Bei weiteren Besuchen stand er auf der Weide, wo ich seinen erschreckend dürren Körper und die seitlichen Rippen sehen konnte. Der Abbau reduzierte sich glücklicherweise aber wieder und so hatte er ein paar Monate später zumindest ein paar Kilo zugenommen und wirkte nicht mehr dürr. Durch meine gelegentlich mitgebrachten Möhren streckte er nun schon den Kopf aus dem Stall, wenn er mich von weitem sah und kam dann ganz gemächlich heraus, ging durch den geöffneten Zwischenzaun, über die Weide, bis er schließlich bei mir angekommen war und das Gemüse dankbar annahm. Den Sommer 2024 über durfte der Westfale aber wieder nicht heraus. Es vergingen Monate, in denen das Gras zwar wuchs, er aber wegen des geschlossenen Zauns nicht hinauskonnte. Weil ich mich über die Haltung meines tierischen Freundes ärgerte, quetschte ich mich an den dicht gepflanzten Bäumen neben dem Stall vorbei und warf ihm zwei Möhren kurzerhand hinüber, die gegen den Stall fielen oder direkt vor seinen Hufen landeten, zerbrachen und sofort von ihm gegessen wurden.
Erst eine schöne Begegnung, dann der leere Stall
Unsere letzte Begegnung sollte am 06. Oktober 2024 sein. Es war Sonntag, Erntedank und ich zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen. Obwohl die Luft kühl war und das Tragen einer Jacke nötig machte, war es nicht besonders kalt. Vielmehr herrschte etwas Sonnenschein. Als ich am Zaun der Pferdeweide angelangt war, sah ich, dass es nach vielen Monaten endlich wieder hinausdurfte und auf dem inzwischen gemähten Rasen stand. Ich trat näher und begrüßte es, woraufhin es zu mir kam. Erneut streichelte ich es. Nicht nur diese Begegnung verschönerte meinen Spaziergang. Die Wochen danach wurde es allerdings wieder nur vor dem Holzbau gehalten.
Bei einem morgendlichen Weihnachtsspaziergang machte ich dann leider die traurige Entdeckung, dass der Stall leer war. Zum ersten Mal seit über zwölf Jahren. Ein Element des weißen Zwischenzauns war sogar entfernt und gegen ein anderes gelehnt worden. Ich musste schlucken und befürchtete das Schlimmste, hatte aber - auch Weihnachten wegen - die Hoffnung, dass der Wallach vielleicht nur in einer Tierklinik war und bald wiederkommen würde. Doch auch Anfang 2025, wo ich den Ort regelmäßig aufsuchte, blieb sein Zuhause leer, was mir Gewissheit brachte, dass dessen Bewohner nicht verkauft worden oder vorübergehend in einer Klinik, sondern verstorben war.
Die Suche nach einem Bild
Daheim durchsuchte ich meine Fotos und stellte betroffen, verärgert und traurig zugleich fest, dass sämtliche, die ich von dem Westfalen angefertigt hatte, unauffindbar waren. Nicht nur die ersten, die ich vor über zehn Jahren geschossen hatte, sondern auch jene, welche ich 2023 und 2024 angefertigt hatte. Schon davor waren ein paar Aufnahmen von mir verschwunden, weil ich davon ausgegangen war, diese bereits kopiert zu haben und dann gelöscht hatte. Offenbar war mir dieses ärgerliche Missgeschick auch bei den neuesten passiert. Das stimmte mich noch trauriger. Nun durchforstete ich meine Bilder akribischer, fand aber lediglich welche vom Osterfeuer, wo es natürlich nicht drauf war.
Ich wollte diesen Beitrag nur ungern ohne eine Aufnahme von dem Pferd, um das es schließlich darin
geht, veröffentlichen. Allerdings blieb mir nichts anderes übrig. Um zumindest seinen Lebensraum hier zeigen zu können, ging ich noch einmal zu seinem Platz (auch in der Hoffnung, dass es wieder
dort wäre) und fertigte ein neues Foto - vom leeren Stall - an. Ohne dessen Bewohner wirkte der Ort noch trostloser als sonst.

Fazit
Der mittelbraune Wallach hat mich über zwölf Jahre lang in gesunden und schlechten Phasen begleitet und sämtliche Gemütsverfassungen meinerseits während meinen Spaziergängen miterlebt. Andersherum war es aber genauso. Ich konnte spüren, dass es nach dem Tod seines Partners einsam war, dass es sich in dem Stall alleine unwohl fühlte und gerne öfter herausgelassen worden wäre. Umso dankbarer war und bin ich für die häufigen Begegnungen, an denen ich es streicheln und die wenigen Male, wo ich ihm mit einer Möhre den Moment versüßen konnte. Obwohl wir zu Freunden wurden, kannte ich zu Lebzeiten des Pferdes nicht einmal seinen Namen. In dessen letzten Monaten habe ich mich oft über die Besitzenden geärgert und gefragt, weshalb es nur noch selten herausgelassen wurde. Vielleicht lag es an seinem Alter, vielleicht an fehlender Zeit, möglicherweise hatten sie die Lust verloren oder es gab andere Gründe. Eine Kontaktaufnahme wenige Wochen vor der Veröffentlichung dieses Beitrags konnte mir zumindest die Frage nach seiner Rasse, seinem Namen und seinem Alter beantworten: das Pferd hieß Lancelot und wurde 27 Jahre alt. Im November 2024, kurz nach unserer letzten Begegnung, musste er aufgrund von Altersschwäche eingeschläfert werden.
Die letzten Zeilen möchte ich an Lancelot richten: Ich hoffe, dass Du es jetzt besser hast und vielleicht wieder bei Deinem tierischen Weggefährten bist. Ich wünsche Dir alles Gute und sage Danke für die zahlreichen Begegnungen mit Dir, die mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert und meinen Tag versüßt haben. Mir graut es jedes Mal davor, dass mich meine vertrauten Wege fortan an Deinem leeren Stall vorbeiführen werden. Umso mehr hoffe ich, irgendwann mal wieder ein Foto von Dir zu erhalten. Gute Reise, liebes Pferd!
